Ein italienischer Meilenstein für die Akzeptanz
In Italien kämpfen Fussballerinnen seit Jahrzehnten um Akzeptanz und Aufmerksamkeit. An der EM verblüffen die Azzurre. Der Halbfinal gegen England soll ein Meilenstein werden.
Die Bedeutung dieses Spiels ist den italienischen Fussballerinnen sehr wohl bewusst: Im EM-Halbfinal gegen den Titelverteidiger England geht es für die Squadra am Dienstag um mehr als den Einzug ins Endspiel - was allein schon ein Coup wäre. Der Match soll in dem männerfussballverrückten Land auch den Frauenfussball auf ein neues Level heben. "Wir legen all unsere Kraft rein und die von allen Frauen und Mädchen, die Fussball spielen wollen", sagte Stürmerin Sofia Cantore der "Gazzetta dello Sport".
Just die grösste italienische Sportzeitung ist ein Spiegel dessen, welch schweren Kampf um Aufmerksamkeit der Frauenfussball beim südlichen Nachbar führt. Zwei Tage vor dem Spiel am Dienstagabend in Genf gegen England widmete sich gerade mal ein Artikel dem EM-Halbfinal - wobei die Werbeanzeige für ein Deo auf auf der gleichen Seite in etwa so gross war wie das ganze Interview mit Torhüterin Laura Giuliani. Nach wilden Transfer-News aus der Serie A (der Männer) musste man bis auf Seite 24 blättern, um es zu finden.
Nach dem dramatischen Viertelfinalsieg über Norwegen hatte es die Frauen-Auswahl sogar auf die Titelseiten der drei grossen Sportblätter des Landes geschafft - wenn auch jeweils nicht als Aufmacher. Darüber aber wollen die Spielerinnen von Nationalcoach Andrea Soncin nicht klagen. Vor allem eine weiss, dass es bei diesem Turnier um mehr als den schnellen Erfolg geht.
"Klar freuen wir uns über den Halbfinal", sagte Captain Cristiana Girelli dem "Corriere della Sera". Die 35-jährige Stürmerin hatte mit zwei Toren gegen Norwegen - eines davon in der 90. Minute - den Einzug in die Vorschlussrunde erst ermöglicht. 28 Jahre nach der 0:2-Niederlage im Final gegen Deutschland sind die Italienerinnen damit wieder unter den besten vier Nationen Europas. "Wir haben das nicht für den persönlichen Ruhm erreicht. Sondern für alle die, die mit uns diesen Weg gegangen sind und für jene Mädchen, die heute davon träumen, das auch einmal zu erleben", sagte Girelli.
Der Weg hierhin war steinig. Zwar wurde 1968 die erste Meisterschaft ausgespielt. Doch erst 1986 nahm der Verband FIGC den Frauenfussball bei sich auf - unter der Sparte Amateure. Es dauerte bis ins Jahr 2022, ehe "Fussballerin" als Beruf anerkannt wurde und Serie-A-Spielerinnen erstmals in den Genuss von adäquaten Versicherungen und Rentenansprüchen kamen.
"Ich kenne diese Geschichten von früher, von Busfahrten von Brescia nach Bari, dem Mittagessen an der Autobahnraststätte und am Nachmittag dann das Spiel", schilderte die Stürmerin Cantore, mit 25 Jahren eine der jüngsten im erfahrenen Kader. Brescia und Bari sind etwa achteinhalb Autostunden entfernt.
Laut einer im Mai veröffentlichten Studie interessieren sich nunmehr 40 Prozent der Leute in Italien für Frauenfussball, rund sieben Millionen Menschen bezeichnen sich als Fans. Dem italienischen Fussballverband zufolge sind das etwa siebenmal so viele wie in der Saison 2019/20. Den Sieg über Norwegen mit der dramatischen Schlussphase verfolgten rund 2,44 Millionen Menschen im Fernsehen.