Für Tatjana Haenni ist die Heim-EM ein Meilenstein für die Schweiz
Tatjana Haenni war als Direktorin Frauenfussball im SFV eine wichtige Persönlichkeit für die Schweizer Kandidatur zur Women’s Euro 2025.
Im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA erklärt die 58-jährige Bernerin, warum sportlicher Erfolg nicht das Wichtigste an diesem Turnier ist. Sie spricht von einem gesellschaftlichen Kulturwandel, den sie sich durch die EM erhofft. Und die abtretende Sportdirektorin der nordamerikanischen Profiliga NWSL sagt, warum nicht alles, was sie in den USA lernt, auch in der Schweiz funktionieren würde.
Tatjana Haenni, schon bald wird die Women’s Euro 2025 angepfiffen. Sie waren ja eine treibende Kraft dahinter, dass dieses Turnier in der Schweiz ausgetragen wird.
"Es ist mir wichtig festzuhalten, dass es Dominique Blanc war, der die Idee hatte, die EM in die Schweiz zu holen. Er hat in seiner Zeit als SFV-Präsident unglaublich viel gemacht für den Frauenfussball. Insofern ist es eine schöne Geschichte, kann er sein Amt nun mit so einem Highlight abschliessen. Auch Marion Daube, meine spätere Nachfolgerin als Direktorin Frauenfussball, war im ganzen Bewerbungsprozess sehr wichtig. Als die Schweiz schliesslich in Lissabon den Zuschlag erhielt, bin ich in meinem Büro in New York herumgehüpft und habe mich mega gefreut."
Reden Sie sich und Ihren Anteil daran, dass dieses Turnier in der Schweiz stattfindet, nun nicht etwas klein?
"Es braucht immer jemanden, der am lautesten ruft und auf Dinge aufmerksam macht, die noch nicht gut laufen. Und das war sehr oft ich. Aber das war als Direktorin auch meine Rolle und meine Verantwortung. Ich musste und wollte mich dafür einsetzen, dass Verbesserungen angestrebt und umgesetzt werden."
Vor der Kandidatur sagten Sie, dass der Schweizer Frauenfussball dank der Heim-EM innert zwei Jahren Fortschritte erzielen könnte, die ansonsten zehn Jahre in Anspruch nehmen würden. Bewahrheitete sich das?
"Wenn man nur schon schaut, wie viel Geld die Städte und Kantone in den Frauenfussball stecken, nicht nur mit den Legacy-Projekten, sondern auch mit Stellen, die für die Nachhaltigkeit und die Frauenfussballförderung geschaffen werden, hat sich das alles gelohnt. Ich habe immer gesagt: Bei diesem Turnier geht es nicht nur um Sportliches, sondern um einen Kulturwandel."
Wie meinen Sie das?
"Unser Ziel war es von Beginn an, dass es ein Turnier werden soll, bei dem jedes Spiel ausverkauft ist. 80 Prozent der Tickets sind vergriffen. Die Euphorie ist gross. Noch nie sind so viele Fans aus so vielen verschiedenen Ländern an eine EM gereist, um Frauenfussball zu schauen und ihr Team zu unterstützen. Die Euro führt zu einer Bewusstseinsveränderung. Bei Mitarbeitenden und Entscheidungsträgern, in Fussballverbänden und -klubs, in Führungsetagen, bei Swiss Olympic, im Baspo, in den Medien, in Unternehmen, in der Gesellschaft. Um das Thema des Frauenfussballs und der Frauensportförderung kommst du heute nicht mehr herum. Zudem sind einige grosse Firmen als Sponsoren eingestiegen. All das wäre ohne dieses Turnier in der Schweiz nicht passiert."
Und wenn das Turnier am 27. Juli mit dem Final in Basel zu Ende geht, wird die Blase wieder platzen und niemand wird sich mehr interessieren?
"Die Euro führt zu einem riesigen Peak des Interesses und der Entwicklung, aber dass diese Kurve dann nach dem Turnier heruntergeht, heisst nicht, dass der Frauenfussball in der Schweiz wieder gleich weit ist wie vor dem Turnier. Die Euro katapultiert die Entwicklung so weit nach vorne - so weit kann sie nicht wieder zurückfallen. Wer aber kritisiert, wenn es bei einem Ligaspiel dann doch einmal wieder nur 200 Fans hat, und daraus schliessen möchte, Frauenfussball interessiere nicht und die Euro habe nichts gebracht, hat keine Ahnung."
Weshalb?
"Das Interesse nimmt nach einem Turnier naturgemäss ab. Das war bei jeder Euro so. Aber in allen anderen Bereichen macht man grosse Fortschritte. Wenn wir schon nur die Statistik der fussballspielenden Mädchen anschauen. Das ist krass. Früher ist diese Zahl jedes Jahr langsam, aber kontinuierlich gestiegen. Dank der Euro ging sie auf einen Schlag deutlich nach oben. Und das wird nicht mehr zurückfallen. Es wird in der Zeitrechnung eine Vor- und eine Nach-Euro-Welt geben für den Frauenfussball in der Schweiz. Und das ist das Entscheidende."
Eine Studie der Zürcher Forscherin Bettina Baer zeigte auf, dass die Zuschauerzahlen in der englischen Super League in der Saison nach der Heim-EM 2022 um 172 Prozent anstiegen. Erwarten Sie einen ähnlichen Effekt in der Schweizer Liga?
"Ich bin skeptisch. In England sind diese Zahlen so gestiegen, weil sie schon viel früher mit der Professionalisierung angefangen haben. Schon vor der Euro wurde sehr viel in die Klubs investiert, und es gab ausgeklügelte Pläne, wie der Frauenfussball gefördert werden soll. Sie spielten in den grossen Stadien, und es wurde gezielt Werbung betrieben. Dann gewann England das Turnier und stellte die Stars des Turniers. So ist es natürlich wesentlich einfacher, Frauenfussball zu vermarkten, als wenn man in der Gruppenphase hängenbleibt."
Beim diesjährigen Final der Schweizer Super League zwischen YB und GC waren über 10’000 Fans im Wankdorfstadion. Das bleibt also eine Ausnahmeerscheinung?
"Ich denke schon, dass die Zuschauerzahlen ansteigen werden. Aber es kommt auch darauf an, was die Klubs machen und wie viel sie bereit sind zu investieren. Wenn der FC Zürich weiterhin auf dem Heerenschürli spielt, dann gehen die Zuschauerzahlen vielleicht von 250 auf 270. Aber YB hat es in den letzten Jahren wirklich gut gemacht. Sie spielten immer mal wieder im Stadion, haben Werbung gemacht und junge Spielerinnen gefördert. Das ist ein passender Weg. Die Klubs müssen den Frauenfussball glaubwürdig fördern, vermarkten und etwas dafür machen. So werden auch die Zuschauerzahlen nach oben gehen. Wenn die Liga auf Nebenschauplätzen spielt, ist klar, dass das Sponsoreninteresse nicht steigt. Es braucht einen Businessplan, in dem dargelegt wird, was die Schweizer Liga als Produkt zu bieten hat und wie sie sich entwickeln kann. Das ist keine Raketenwissenschaft. Aber es braucht jemanden, der das macht. Das Gute ist, dass der SFV dies erkannt hat und in dieser Hinsicht interne Projekte am Laufen sind, was sicherlich einige Prozesse anschieben wird."
Sie sprechen die Vermarktung an. Noch bis Ende Jahr sind Sie Sportdirektorin der nordamerikanischen Profiliga NWSL. Wie wird der Frauenfussball denn in den USA vermarktet?
"In den zweieinhalb Jahren hier habe ich sehr viel gelernt, was Kommerzialisierung angeht. Es ist beeindruckend, was die Liga und die Klubs investieren, wie sie es schaffen, dass die Leute ins Stadion kommen und bleiben, wie sie Trikots und sonstige Fanartikel kaufen, wie Mädchen und Buben eine Bindung zu den Teams und den Spielerinnen aufbauen."
Wie sieht das konkret aus?
"Vor kurzem war ich an einem Spiel von Angel City in Los Angeles, wo wahrscheinlich die beste Stimmung in der ganzen Liga herrscht. Diese Show. Drei Pilotinnen flogen über das Stadion und sprangen mit Fallschirmen auf den Platz, eine Girl-Group sang, es hatte Tänzerinnen, eine Lichtshow und Rauchbomben. Du hattest das Gefühl, du seist an irgendeinem Konzert von Pink, aber nicht beim Fussball."
Also müsste vor einem Spiel des FC Zürich die Patrouille Suisse über den Letzigrund fliegen und müssten auf dem Rasen drei Alphornbläser und ein Jodlerchörli ihre Lieder zum Besten geben, damit die Fans ins Stadion kommen?
(lacht) "Wenn du erfolgreich sein willst, kannst du nicht einfach etwas kopieren. Das ist auch eine kulturelle Frage. Aber die Prinzipien hier in den USA stimmen ja. Es geht in erster Linie darum, die Leute für ein Team, eine Liga und einen Wettbewerb zu begeistern. Wenn du die Fans nicht in die Stadien bringst, gibt es auch nichts zu kommerzialisieren. Also müssen die Spiele der Schweizer Super League in die grossen Stadien. Das ist zwingend. Klar, kommen dann nicht jedes Mal 10’000 Fans. Aber vielleicht 1000. Und das ist doch schon einmal etwas. Dann müssen es die Vereine schlau bewerben und eine Bindung zwischen den Fans, den Klubs und den Spielerinnen herstellen. Die einzige Frage, die sich die Klubs stellen müssen, ist, wie sie möglichst viele Fans in die Stadien bringen."
Sportlicher Erfolg hilft sicher auch.
"Genau. Und da kommen wir zur sportlichen Entwicklung. Der Verband und die Vereine müssen in die sportliche Entwicklung investieren. Denn wenn du gut bist, ziehst du automatisch mehr Leute an. Leider hat die Schweiz diesbezüglich in den letzten Jahren etwas den Anschluss verloren."
Inwiefern?
"Nach der goldenen Generation um Lara Dickenmann, Ramona Bachmann und Martina Moser haben wir uns jeweils haarscharf für die EM 2022 und die WM 2023 qualifiziert. Wir sind in den letzten Jahren besser weggekommen, als wir es wahrscheinlich sind. Wir hatten ein paar Mal Glück bei der Auslosung, auch jetzt bei dieser EM hatten wir wieder Glück. Europaweit liegen wir aber wohl irgendwo zwischen Rang 12 und Rang 20. Wir sind keine Top-Nation. Das ist die Realität."
Was trauen Sie dem Team von Pia Sundhage denn für das Turnier zu?
"Wünschen würde ich mir, dass sie sich für den Viertelfinal qualifizieren, was in dieser Gruppe auch möglich ist. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es einen Worst-Case gibt. Ich kann mir vorstellen, dass sie null Punkte holen. Ich hoffe und wünsche es mir natürlich nicht, aber möglich ist es."
Was lässt sie zu diesem Schluss kommen?
"Das Team hat ein paar gute junge Spielerinnen. Ich denke aber, dass das Turnier ein wenig zu früh kommt. Das Team befindet sich im Umbruch. Aber klar: Wenn die Schweizerinnen richtig durchstarten und in ihrer Gruppe Erste werden, bin ich die Erste, die den Hut zieht und auf der Tribüne tanzt. Ich möchte einfach nicht zu hohe Erwartungen schüren. Und ich möchte vor allem nicht, dass alle auf dem Schweizer Team herumhacken und alles schlechtreden, sollte der sportliche Erfolg ausbleiben. Denn wie gesagt: Das ist nicht das Wichtigste bei diesem Turnier. Das Wichtigste ist, dass sie das Land bewegen, dass sie die Kultur verändern, dass der SFV und die Klubs danach motiviert sind, die Ressourcen zu erhöhen, dass es bessere Entwicklungsmöglichkeiten gibt für die Spielerinnen. Und das wird die Euro ziemlich sicher alles erreichen. Deshalb ist sie für mich schon jetzt ein Erfolg."
Sie sprachen von SFV-Präsident Dominique Blanc als grossem Förderer des Frauenfussballs. Was erwarten Sie von dessen Nachfolger Peter Knäbel?
"Ich kenne und schätze Peter. Ich hoffe, dass er die Ressourcen erhöht und die Strukturen so anpasst, dass der Frauenfussball im Zentralvorstand des SFV eine eigene Kammer erhält. Und ich wünsche mir, dass er nach der Euro schnell Entscheide fällt, wie er den Frauenfussball weiterentwickeln will."
Werden Sie für die Euro eigentlich aus den USA anreisen?
(Strahlt und reisst beide Arme hoch) "Ja, ich habe Glück. Ich darf aus der Schweiz weiterarbeiten. Vom 30. Juni bis am 28. Juli bin ich da. Ich freue mich mega."