Es lief bereits die dritte Minute der Nachspielzeit, als Francesco Acerbi nach einem langen Abschlag von Yann Sommer nach vorne rannte, Denzel Dumfries von rechts flach in den Strafraum passte und Acerbi den Ball aus sechs Metern hoch ins Barca-Gehäuse knallte.
Inter Mailands Innenverteidiger riss sich sein Trikot herunter und zeigte der Welt seinen tätowierten Oberkörper. Seinen Bauch, seine Brust und seinen rechten Arm zieren Bilder von Löwen. Sie stehen für Mut und den unbändigen Willen, mit dem er eine schicksalhafte Zeit in seinem Leben meisterte.
Mit seinem Tor zum 3:3 bescherte der 37-Jährige seinem Team die Verlängerung im epischen Habfinal-Rückspiel gegen den FC Barcelona und ebnete den Weg zu seiner zweiten Teilnahme an einem Finale der Champions League Auf seinem Weg in die Beletage des Spitzenfussballs hat sich der Abwehrspieler, der äusserlich den Typ "alter Haudegen" verkörpert, lange Zeit selbst im Weg gestanden.
Acerbi: "Der Krebs hat mich gerettet"
Erst eine schwere Erkrankung brachte ihn auf den richtigen Pfad. "Der Krebs hat mich gerettet", gibt Acerbi zu. 2013 wurde bei einer Routineuntersuchung Hodenkrebs diagnostiziert. Doch dieser Schock veränderte sein Leben zunächst noch nicht.
Der Tod seines Vaters ein Jahr zuvor hatte ihn aus der Bahn geworfen. "Danach fühlte ich mich leer und Fussball war bedeutungslos für mich", erzählte Acerbi der Gazetta dello Sport. In dieser Zeit wechselte er von Chievo Verona zu AC Mailand. Milan war der Klub, von dem er schon als Kind geschwärmt hatte, doch während seiner Zeit bei den Rossoneri machte er häufig die Nacht zum Tag. "Ich kam oft betrunken zum Training", verriet er in einem Interview mit L'Ultimo Uomo.
Schwere Zeit während der Chemotherapie
Über eine Leihe nach Genua landete er wieder in Verona und schliesslich in Sassuolo. Kurz nach der ersten Diagnose schien er den Krebs überwunden zu haben, doch die Krankheit kehrte zurück.
Von Januar bis März 2014 unterzog er sich einer Chemotherapie. "Es war, als würde man in eine Parallelwelt eintreten, deren Eingang näher ist, als man denkt, und die man nie wieder verlässt. Es ist eine Welt des Schmerzes und des Mutes", beschrieb Acerbi diese Zeit.
"Ich hatte Angst vor meinem Schatten"
Erst nachdem er die Krankheit ein zweites Mal überwunden hatte, änderte sich sein Leben. Der Vater eines Kindes, das Krebs im Endstadium hatte, kam auf ihn zu. Acerbi besuchte den Jungen. "Er hat mir sehr viel beigebracht", gab der eisenharte Verteidiger zu.
"Ein Jahr nach der Krankheit schlief ich eines Nachts ein, als ob nichts geschehen wäre. Aber am Morgen wachte ich mit Schrecken auf", verriet er: "Ich hatte Angst vor meinem Schatten. Ich dachte an all die Sorgen, die ich meinen Eltern bereitet hatte, an die Chancen, die ich vertan hatte, an die vergeudeten Jahre, an die Abende voller Exzesse. Alles zusammen, ganz plötzlich."
Erfolgreiche Zeit zusammen mit Trainer Inzaghi
Acerbi suchte sich therapeutische Hilfe und verändert sein Leben komplett. Statt nachts zu feiern und ungesundes Essen in sich hineinzustopfen, achtete er auf seine Ernährung und verhielt sich wie ein Profi. 2018 wechselte er von Sassuolo zu Lazio Rom, wo der heutige Inter-Trainer Simone Inzaghi bis 2021 Chefcoach war. Acerbi wurde zum Leistungsträger und Nationalspieler. Mit Italien wurde er 2021 Europameister, damals noch als Ersatzspieler.
Nachdem er sich mit den Lazio-Fans überworfen hatte, wechselte er 2022 nach Mailand. Mit den Nerazzurri wurde er Meister, Pokalsieger und Supercupsieger, 2023 stand er im Champions-League-Finale, Inter verlor 0:1 gegen Manchester City.
In diesem Jahr greift Francesco Acerbi mit den Schwarz-Blauen zum zweiten Mal nach dem Henkelpott. München wäre ein passender Ort, um seine Tattoos noch einmal der Welt zu zeigen. Die Löwen sind auch die Symbolfiguren des Freistaats Bayern.