Kann Belinda Bencic jetzt Wimbledon gewinnen? Zwei Meinungen
Belinda Bencic steht nach ihrem Erfolg gegen die an Nummer 7 gesetzte Mirra Andreeva erstmals in ihrer Karriere im Halbfinal von Wimbledon. Liegt jetzt sogar der lang ersehnte (Grand Slam)-Titel drin? Unsere Redaktoren Andy Maschek und Patrick Y. Fischer sind sich uneinig.
Andy Maschek sagt: Ja
Es ist überraschend, beeindruckend und begeisternd, was uns Belinda Bencic in diesen Tagen in Wimbledon serviert. Gegnerin um Gegnerin schaltet sie aus. Und nähert sich so Schritt für Schritt ihrem grossen Ziel oder noch besser: Traum – dem Gewinn eines Grand Slam-Titels. Und dies ausgerechnet an ihrem Lieblingsturnier, in Wimbledon, wo sie 2013 bei den Juniorinnen gewonnen hatte. Aus Schweizer Sicht hatte dies vor der Ostschweizerin nur Martina Hingis, ihr Vorbild, geschafft. Die einstige Weltnummer 1 war es auch, die bislang als einzige Schweizerin das Frauenturnier auf dem Heiligen Rasen für sich entschied, im Jahr 1997. Doch das wird sich nun ändern.
Zwei Schritte, zwei Matches trennen Bencic noch vom grossen Triumph. Und es spricht für mich absolut nichts dagegen, dass sie es auch schafft. Auch wenn die Hürden mit der Polin Iga Swiatek, einer ehemaligen Weltnummer 1, und danach möglicherweise mit der aktuellen Weltbesten, der Weissrussin Aryna Sabalenka, schon fast maximal hoch sind.
Vor dem heutigen Halbfinal gegen Swiatek sieht die Statistik Swiatek im Vorteil . Sie führt im Direktvergleich mit 3:1 Siegen und entschied 2023 auch das einzige Duell in Wimbledon für sich. Doch diese Niederlage vor zwei Jahren ist für die Ostschweizerin auch ein Mutmacher. Sie erspielte sich damals zwei Matchbälle, ehe sie doch noch in drei Sätzen verlor. Und auch die Unterlage spricht nicht unbedingt für Swiatek, die in Wimbledon ebenfalls erstmals im Halbfinal steht. Wobei man nicht vergessen darf, dass auch sie hier einst Junioren-Championne war, 2018, nach einem Finalsieg gegen die Schaffhauserin Leonie Küng.
In Wimbledon überzeugt Bencic nun aber auf der ganzen Linie. Sie wirkt körperlich so gut trainiert wie vielleicht noch nie. Sie bleibt auch in heissen Situationen cool und fokussiert, spielt solide und präzise, konstant und schlau und bewegt sich sehr gut. Das Gesamtpaket ist überzeugend und vielversprechend. Noch wichtiger ist aber der mentale Bereich. Bencic wirkt gefestigt, überzeugt mit der Gelassenheit einer jungen Mutter, die weiss, dass es wichtigere Dinge gibt im Leben als den Sport. Sie ist reifer geworden und lockerer, weniger verbissen als früher, als sie ab und an die Contenance verlor, mit sich und der Welt haderte. Im Viertelfinal gegen Andreeva brach ein Zehennagel im Schuh, doch auch diese Schmerzen brachten Bencic nicht aus der Ruhe, sie zog ihr Ding durch. Stark!
Belinda Bencic hat die Balance zwischen Familie und Sport gefunden, bewegt sich auf diesem Grat äusserst souverän. Ihre Familie mit Ehemann Martin Hromkovic und Tochter Bella ist ihre mentale Wellnessoase, wo sie abschalten und auftanken kann.
Nur sieben Frauen haben als Mutter ein Grand Slam-Turnier gewonnen, und in Wimbledon hat das bis heute einzig die Australierin Evonne Goolagong 1980 geschafft. Doch alle sieben Frauen kannten dieses Gefühl des grossen Sieges schon vor der Geburt ihres ersten Kindes. Bei Belinda Bencic ist dies nicht der Fall. Doch ich bin überzeugt, dass sie reif ist für diese Premiere, den ersten Major-Titel – und zwar hier und jetzt in Wimbledon.
Patrick Y. Fischer sagt: Nein
Fast auf den Tag genau zwölf Jahre ist es her, seit Belinda Bencic im All England Lawn Tennis an Croquet Club ein Versprechen abgab. Mit ihrem Sieg beim Wimbledon-Turnier der Juniorinnen deutete die damals 16-jährige Ostschweizerin nämlich an, dass sie eines Tages zu den Grossen in ihrem Sport gehören könnte. Mit zwei Siegen morgen Donnerstag und im Endspiel vom Samstag könnte sie dieses Versprechen einlösen. Nur, ich glaube ich nicht daran.
Gewiss, spielerisch ist Belinda Bencic ein zweiter Triumph in Wimbledon durchaus zuzutrauen. Die ehemalige Schülerin von Melanie Molitor spielt ein schnörkelloses Tennis, nimmt die Bälle früh und ist so in der Lage, die Reaktionszeit ihrer Gegnerinnen auf dem ohnehin schnellen Rasenbelag weiter zu verkürzen. Zudem ist sie dank ihrer ebenso sauberen wie effizienten Technik auch weniger anfällig auf die eine oder andere Beliebigkeit, die das Spiel auf Rasen gelegentlich mit sich bringt. Aber diese Vorteile und Stärken hat Belinda Bencic bereits, seit sie 2011 als 14-jähriges Mädchen auf der Tour debütierte.
Mittlerweile sind eine körperliche (und spielerische) Weiterentwicklung, ein Olympiasieg, der Titel im Fed Cup sowie total acht Turniersiege auf der WTA Tour hinzugekommen. Ein Grand-Slam-Titel - oder auch „nur“ schon ein Grand-Slam-Endspiel – fehlen aber noch immer in ihrem Palmarès, das gemessen an ihrem Potential zu dünn bestückt ist. Und das hat seinen Grund: In den entscheiden Grand-Slam-Momenten gelang es Bencic bislang nicht, ihr maximales Potential abzurufen. Dabei stand sie sich entweder selbst im Weg oder aber sie traf auf eine Gegnerin, die noch etwas besser und vor allem auch druckvoller agierte, als sie selbst. Und diesbezüglich sind Vorbehalte auch dieses Mal angebracht.
Denn unter den letzten Vier stehen mit Aryna Sabalenka (WTA 1, drei GS-Titel) und Iga Swiatek (WTA 4, fünf GS-Titel) zwei Spielerinnen, die bereits mehrfach bewiesen haben, dass sie die spielerische und mentale Stärke besitzen, um ein Grand-Slam-Event zu gewinnen. Zwar nicht in Wimbledon, aber dennoch werden sie in den entscheidenden Momenten von vergangenen Erfolgserlebnissen und Erfahrungen zehren können, die Bencic (vor Wimbledon bislang einmal in einem GS-Halbfinale) weitestgehend abgehen. Mehr noch: Wer sich wie die 28-Jährige in mehreren Jahren Grand-Slam-Tennis noch nicht durchsetzen konnte, hat in dieser Zeit auch bereits mehrfach Situationen des Scheiterns erlebt. Diese beim neunten Anlauf in Wimbledon einfach auszublenden, erachte ich als ebenso grosse Herausforderung, wie die Stärke der sportlichen Konkurrenz. Beide zusammen zu meistern, traue ich Belinda Bencic in den kommenden Tagen nicht zu.